Der Pygmalion Effekt

Einfach nur dem Team vertrauen und schon stimmt die Leistung? Ganz so einfach ist es nicht mit den selbsterfüllenden Prophezeiungen. Zwar wird der Pygmalion-Effekt, nach dem die Erwartungshaltung die Performance beeinflusst, häufig kritisiert. Aber in der praktischen Feldforschung lassen sich seine Ergebnisse reproduzieren – also muss wohl was dran sein.
Veröffentlicht am 02.09.2021
Der Pygmalion Effekt

Wie wichtig ist die psychologische Komponente im Verhalten von Führungskräften? An dieser Frage sind wohl schon viele Diskussionen gescheitert. Generationen von Motivationstrainern ziehen mit Tipps für positives Denken oder Gedankensteuerung durch die Lande, mal mehr, oft weniger seriös. Reicht es aus, etwas einfach nur fest genug zu wollen und daran zu glauben, um es zu erreichen? Sicher nicht, sonst wäre vermutlich nicht nur der Mond, sondern alle Planeten bereits bevölkert und unzählige andere Dinge erreicht, die Menschen sich wünschen. Aber es gibt erstaunliche sozial-psychologische Forschungsergebnisse zu selbsterfüllenden Prophezeiungen. Und daraus können Führungskräfte praktische Erkenntnisse gewinnen für die tägliche Arbeit.

Selbsterfüllende Prophezeiungen werden seit Beginn des 20. Jahrhunderts diskutiert. Im Grundsatz geht es darum, dass durch eine falsche Bestimmung einer Situation ein Verhalten erzeugt wird, das dazu führt, das die falsche Annahme richtig wird. Das Verhalten und die ihm zugrunde liegende Erwartung (Prognose) führt also zu einer Veränderung der Situation. Das zeigt sich beispielsweise beim Placebo-Effekt in der Medizin. Und zu Beginn der Corona-Pandemie zeigte sich die Macht der selbsterfüllenden Prophezeiung in den Regalen für Lebensmittel oder Toilettenpapier – die irgendwann tatsächlich bestehende Knappheit vieler Güter entstand nicht etwa durch objektive Probleme (Zusammenbruch der Lieferketten oder Produktion), sondern dadurch, dass viele Menschen diese Produkte in erhöhtem Maße kauften, weil sie annahmen, sie würden knapp. Also wurden sie knapp.

Der Rosenthal-Effekt stammt aus einem Versuch in den frühen 1960er Jahren. Dabei wurde einer Gruppe Studierenden Laborraten gegeben. Der Hälfte der Gruppe wurde gesagt, ihre Ratten seien speziell darauf trainiert, möglichst rasch durch einen Irrgarten zu kommen, die andere Hälfte glaubte, ihre Ratten seien besonders dumm gezüchtet. Tatsächlich waren alle Ratten von gleicher genetischer Herkunft. Aber die Hälfte, die angeblich besonders schlau gezüchtet worden war, zeigte in den folgenden Versuchen deutlich bessere Leistungen als die Ratten der zweiten Gruppe. Was sonst als die Erwartungen der Studierenden könnte die Leistungen der Ratten beeinflusst haben?

Als Pygmalion-Effekt wird ein psychologisches Phänomen bezeichnet, dass der Psychologe Robert Rosenthal ein paar Jahre später bei Versuchen in Schulen entdeckte. Hier wurden Tests mit Schülern und Schülerinnen durchgeführt, die angeblich deren Leistungsfähigkeit und -potenzial einschätzen sollten. Tatsächlich waren es Intelligenztests. Als Ergebnis wurden nur den Lehrkräften mitgeteilt, welche Kinder (20 Prozent der Getesteten) kurz vor einem Entwicklungsschub stünden. Tatsächlich wurden die genannten Kinder willkürlich ausgewählt. Acht Monate später wurde der IQ-Test wiederholt und siehe da: Bei jenen 20 Prozent der Schüler und Schülerinnen, die den Lehrkräften genannt wurden, waren die IQ-Steigerungen deutlich höher als beim Rest. In der Folge wurde recht viel methodische Kritik an Rosenthals Versuch geäußert, trotzdem wurden die Ergebnisse mittlerweile sehr häufig reproduziert. Deshalb ist der Pygmalion-Effekt auch längst zum psychologischen Standard geworden. Erklärung: Die Erwartungen der Lehrer über die Leistungen der Schüler beeinflussen sowohl das Urteil des Lehrers als auch die Leistungen der Schüler. Auch dann, wenn Lehrkräfte sich explizit um Neutralität bemühen und die Schülerschaft die Erwartungen nicht kennt. Es gilt mittlerweile als gesichert, dass die positive Erwartung zu einem positiveren emotionalen Klima führt (z.B. mehr Blickkontakt, auffordernde Gesten, häufigeres Lächeln oder Zunicken), zu differenzierteren Rückmeldungen, zu mehr Möglichkeiten, sich zu Wort zu melden und zu angemesseneren Lerninhalten. Davon profitieren die Schülerinnen und Schüler, zu denen Lehrkräfte positive Erwartungen haben und folglich werden ihre Leistungen besser.

In die Arbeitswelt übertragen nennt sich das Galatea-Effekt. Demnach beeinflussen die Erwartungen von Führungskräften die Leistungen der Beschäftigten direkt, in vergleichbarer Weise wie beim Rosenthal-Effekt. Und zusätzlich auch indirekt, weil positive Erwartungen der Vorgesetzten zu positiven Erwartungen der Beschäftigten an ihre eigenen Leistungen führen, also zu höherer Selbstwirksamkeitserwartung. Untersuchungen zeigen: Aus starkem Glauben an die eigene Kompetenz erwächst größere Ausdauer für die Bewältigung von Anforderungen. Zudem entsteht daraus häufig ein Kreislauf: Menschen, die stark an sich selbst glauben, suchen sich häufig anspruchsvolle Aufgaben, deren Bewältigung zu Bestätigung (von innen wie von außen) führt und wiederum die Selbstwirksamkeitserwartung erhöht. Leider geht das aber auch umgekehrt: Als Golem-Effekt wird bezeichnet, wenn negative Erwartungen von Vorgesetzten oder Lehrern zu negativen Leistungen oder Entwicklungen führen.

Der Nutzen: Es reicht auf keinen Fall aus, nur mit positivem Denken zur Arbeit zu gehen. Das wäre Motivationstrainer-Esoterik. Beschäftigte müssen sich selbst und Führungskräfte ihren Untergebenen sinnvolle Ziele setzen, die inhaltlich und zeitlich konkret sind, messbar, überhaupt realistisch erreicht werden können und möglichst auch attraktiv sind. Ist das gegeben, kann es den entscheidenden Unterschied machen, ob Sie sich selbst viel zutrauen oder wenig, ob Sie zu Beginn des Projektes denken „Das klappt schon“ oder „Hoffentlich geht’s nicht schief“, ob Sie ihrem Team mit Zuversicht und Vertrauen gegenübertreten oder mit Misstrauen und Gängelung.