Tierische Therapeuten

Bauernhofpädagogik als Einnahmequelle
Veröffentlicht am 05.10.2023
Tierische Therapeuten

Landwirtschaftliche Betriebe suchen nach neuen Erlösquellen. Angebote aus dem Bereich Bauernhofpädagogik bzw. tiergestützte Therapie ergänzen Direktvermarktung, Hofcafé, Bauernhofeis, Ferienwohnung oder Regionalladen.

In Rulfingen, einem kleinen Ort in Oberschwaben 40 Kilometer nördlich des Bodensees, schmusen Seniorinnen mit Hühnern, streicheln Senioren Schafe, helfen alte Menschen bei der Fütterung oder besuchen Kühe auf ihren Weiden. Laut Andrea Göhring hat ein Senior sogar seinen Rollstuhl verlassen und ist 30 Meter weit gelaufen, um den Tieren nahe zu sein. Ein anderer mahlt mit einer alten Kaffeemühle das Futter für die Hühner. Und eine alte Frau wundert sich, warum der vorbeifahrende Trecker so groß ist, früher habe man alles mit der Hand gehackt. Dass bei der Seniorin sich eine beginnende Demenz eigentlich bereits bemerkbar macht, davon ist im Moment nichts zu spüren.

Auf dem Hof von Andrea und Hubert Göhring gibt es unter dem Stichwort „Lebenslernort Bauernhof“ tiergestützte Lern- und Therapie-Angebote für Einzelpersonen und Gruppen, vom Kindes- bis ins Seniorenalter. Zusammen mit der Journalistin Jutta Schneider-Rapp hat Andrea Göhring in diesem Jahr auch ein Buch veröffentlicht über die Arbeit mit älteren und an Demenz erkrankten Menschen auf dem Bauernhof (Bauernhoftiere bewegen Seniorinnen und Senioren, 28 Euro, Pala-Verlag Darmstadt). Wer nun aber glaubt, der Hof der Göhrings sei mehr ein Streichelzoo, der irrt: Der Biolandhof bewirtschaftet 100 Hektar Ackerfläche und 20 Hektar Grünland, erzeugt verschiedene Getreidesorten und Eiweißpflanzen, baut Kartoffeln an und ist in der Pflanzgutvermehrung aktiv. Streuobstwiesen werden ebenfalls bewirtschaftet, ein Hofladen vermarktet die Produkte. Außerdem werden auch Forstarbeiten angeboten.

Bauernhofpädagogik ist kein völlig neuer Trend. Zunehmend kommen dabei tiergestützte Angebote ins Spiel. Und die Zielgruppen erweitern sich – von Projekten mit „normalen“ Schulklassen über Angebote für körperlich oder geistig eingeschränkte Kinder zu Einzel- und Gruppentherapie für Kinder und Erwachsene mit psychischen und/oder emotionalen Problemen bis hin zu Coaching oder Teambuilding oder eben der Arbeit mit Senioren und Seniorinnen – diese manchmal auch noch mit Wohnangeboten verknüpft.

Gerade Tiere erleichtern oft den Zugang zu alten Menschen, die Kontaktaufnahme mit ihnen und ihre Mobilisierung, weiß Andrea Göhring. Senioren haben in ihrer Jugend oft viel engeren Kontakt mit Tieren gehabt als heutige Kinder. Gerade Menschen mit Demenz sind über Kindheitserinnerungen oft erreichbar. Viele Menschen haben den Impuls, das Fell oder die Federn von Tieren zu streicheln und Kontakt mit ihnen aufzunehmen.

Wer für seinen Betrieb über die Einführung solcher Angebote nachdenkt, sollte diese aber gründlich planen. Die Göhrings und viele andere Betriebe beweisen zwar, dass sich solche Angebote in einen voll bewirtschafteten großen Betrieb integrieren lassen, aber sicher nicht mal so nebenbei. Es fängt schon damit an, dass Besucher und Betreute nicht einfach ohne weiteres „auf die Tiere losgelassen“ werden können – im Interesse beider Seiten. Tiere müssen auf den nahen Kontakt mit Menschen vorbereitet und an ungewöhnliche Gegenstände wie etwa Rollstühle oder Krücken gewöhnt werden, damit sie nicht verschreckt reagieren und gestresst sind. Es braucht Beschäftigte, die solche Angebote betreuen, es braucht ein Rahmenprogramm, idealerweise die Kooperation mit sozialen oder Pflegeeinrichtungen vor Ort, auch Räumlichkeiten auf dem Hof für schlechtes Wetter und Toiletten sowie andere Infrastruktur. Auch gehören Tiere wie Schaf, Ziege, Esel oder etwas exotischere wie etwa Hängebauchschweine heute nicht mehr automatisch zum Inventar vieler Höfe.

Ausbildungen, Information und Beratung bieten etwa die Landwirtschaftskammern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und andere. Es gibt eine Weiterbildung zur Fachkraft für Tiergestützte Therapie und Pädagogik bei der European Society for Animal Assisted Therapy (ESAAT). Der Lehrgang „Green Care – Soziale Angebote auf dem Bauernhof“ der LWK Schleswig-Holstein beispielsweise dauert 120 Unterrichtsstunden und endet mit einem Zertifikat. Bei der LWK Niedersachsen gibt es den Lehrgang „Bauernhofpädagogik“, der Bundesverband tiergestützte Intervention listet ebenfalls Weiterbildungsangebote und auch Hochschulen wie die Justus-Liebig-Universität in Gießen haben passende Angebote. Auch der Verein „Bauernhoftiere bewegen Menschen“ von Schneider-Rapp und Göhring setzt sich für die Förderung tiergestützter Projekte auf Bauernhöfen ein.

 

 

Bundesverband tiergestützte Intervention: https://www.tiergestuetzte.org/tiergestuetzte-interventionen/weiterbildung

Broschüre der LWK Niedersachsen mit Beispielen und Planungstipps: https://www.landwirtschaftskammer.de/landwirtschaft/landservice/pdf/green-care-fallbeispiele.pdf