Open Hiring: Wer sich zuerst meldet, hat den Job

Immer mal wieder wird auch durchs Dorf der Recruiter eine neue Sau getrieben. In Deutschland noch nicht sehr bekannt, aber anderswo bereits praktiziert ist das Open Hiring. Dabei wird auf den klassischen Bewerbungsprozess verzichtet. Die Stelle bekommt, wer sich zuerst meldet. Klingt völlig verrückt? Ja, kann aber Vorteile haben.
Veröffentlicht am 22.03.2022
Open Hiring: Wer sich zuerst meldet, hat den Job

Artikel über Personalthemen brauchen üblicherweise keine Triggerwarnung, denn es geht nicht um Gewalt, Sex oder sonstige Themen, die bei empfindlichen Menschen Traumata auslösen könnten. Hier kommt eine Ausnahme, mit Augenzwinkern: Das nachfolgend besprochene Thema Open Hiring eignet sich vielleicht nicht unbedingt für die sofortige 1:1-Umsetzung. Aber ganz so abseitig, wie eine Einstellung ohne klassischen Bewerbungsprozess nach dem Prinzip „First come, first hired“ zunächst klingen mag, ist es vielleicht gar nicht. In bestimmten Situationen kann ein Unternehmen daraus Vorteile gewinnen.

Unter Open Hiring wird die Besetzung einer Stelle ohne Auswahlprozess verstanden. Kein Bewerbungsschreiben, kein Lebenslauf, kein Vorstellungsgespräch. Stelle bekannt machen, Bewerbungsformular dazu oder Zeit und Ort, wo sich Bewerberinnen und Bewerber einfinden sollen und die erste Person, die sich meldet, erhält den Job. Der Rest bekommt Absagen oder auf die Warteliste. In Artikeln zum Thema wird stets die Greystone Bakery in New York genannt, die nach diesem Prinzip arbeitet. Das Anfang der 80er Jahre gegründete Unternehmen macht immerhin rund 20 Millionen Dollar Jahresumsatz und arbeitet profitabel, die Brownies der Bäckerei stecken im bekannten Ben & Jerry-Eis. Das Unternehmen stellt viele Menschen ein, die wegen ihrer kriminellen Vergangenheit, Obdachlosigkeit, Behinderung, fehlender Ausbildung oder aus anderen Gründen am Arbeitsmarkt benachteiligt sind. Von ihrem Gründer soll das Zitat stammen, man beschäftige keine Menschen für die Herstellung von Brownies, sondern backe, um Menschen zu beschäftigen.

Das ist nicht exakt die gleiche Motivation wie hinter anderen Unternehmen, aber die Tatsache bleibt, dass das Modell wirtschaftlich zu funktionieren scheint. Und es gibt Nachahmer. Die Kosmetik-Kette The Body Shop hat Open Hiring eingeführt. Wenn Stellen in Shops, Lager und Logistik oder Einstiegspositionen in anderen Bereichen zu vergeben sind, kontaktieren die Recruiter die erste Person auf ihrer Liste nach Eingangsdatum, stellen die offenen Stellen vor, beschreiben die Aufgaben und fragen, ob die Person eine Arbeitsberechtigung hat, sich die Arbeit körperlich zutraut und warum sie bei The Body Shop arbeiten wollen. Dann bekommen sie den Job, wenn sie ihn wollen. Nach einem Pilotprojekt 2019 wurde 2020 das gesamte Recruiting in den USA und Kanada auf dieses Modell umgestellt und seither mehr als 700 Saison-Arbeitskräfte eingestellt, von denen zehn Prozent dauerhafte Jobs bekamen.

Wenn man über das Konzept nachdenkt, fällt schnell das Einsparpotenzial auf: Klassische Bewerbungsverfahren kosten viel Geld und Zeit. Durch Verzicht auf Bewerbung und Vorstellungsgespräch müssen keine Anschreiben und Lebensläufe analysiert und bewertet, keine Mappen zurückgesendet werden usw. Auch Bewerbungsgespräche bringen viel Aufwand mit sich. Und der Open Hiring-Ansatz erschließt einen ungleich größeren Pool an Kandidaten und Kandidatinnen. Zudem können Stellen sehr viel schneller besetzt werden als mit dem klassischen Auswahlverfahren. Zudem ist es wahrscheinlich, so hoch motiviertes Personal einzustellen. Und nicht zuletzt kann ein so niedrigschwelliger Ansatz ein enormes kommunikatives Potenzial für den Unternehmen haben.

Natürlich liegen auch Einwände auf der Hand, insbesondere der, ungeeignetes Personal zu bekommen. Klar ist, dass die Methode nicht funktionieren kann bei Positionen, für die definierte Fähigkeiten nötig sind oder gesetzlich gefordert werden wie Führer- oder Staplerschein oder anderes. Aber jenseits davon: Haben nicht viele Stellen sowieso eine Einarbeitungsphase? Es könnte sich lohnen, darüber nachzudenken, ob nicht mit einer sehr detaillierten Stellenbeschreibung in Kombination mit einem Kontaktformular, in dem bestimmte Skills (wie etwa Staplerschein, Sprachkenntnisse oder Hygienezeugnis) abgefragt und zur Bedingung gemacht werden, auf sehr einfache Weise ein sehr großer Pool von Menschen erreicht wird, der dann im Bedarfsfall sehr schnell eingestellt werden kann. Zumindest für Tätigkeiten mit überschaubarem Anforderungsprofil könnte Open Hiring echtes Innovationspotenzial im Personalwesen bieten. Nötig wäre eine wirklich ausführliche Stellenbeschreibung mit klaren Anforderungskriterien, Ausschlussgründen und unverzichtbaren Fähigkeiten. Die wenigsten Menschen dürften sich frohen Mutes auf eine Stelle bewerben, wenn ziemlich klar ist, dass sie ihr nicht genügen werden. Unverzichtbare Bedingungen könnten per Formular dazu genutzt werden, offensichtlich unpassende Menschen von der Kontaktaufnahme abzuhalten. Es könnten zusätzlich einfache Tests auf kognitive Fähigkeiten oder Interessen und Motivation eingebaut werden, deren Bestehen dann automatisch zur Einstellung oder auf die Warteliste führt. In Verbindung mit einem ordentlichen Onboarding und gründlicher Einarbeitung könnte so ein Verfahren bei passenden Stellen sogar zu einer besseren HR-Performance führen als der aufwändige und ja bekanntermaßen dennoch fehleranfällige klassische Bewerbungsprozess.