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Vulnerable Leadership – neuer Hype oder sinnvolle Führungstechnik?

Die zurückliegenden und aktuellen Krisen haben neue Werte im Geschäftsleben gefördert. Auch Trends, die der jungen Generation sowieso immer wichtiger werden. Da geht es plötzlich um Gefühle, Achtsamkeit, Resilienz und anderen Begriffe, die weit weg vom rein auf Perfomance fixierten Geschäftsleben erscheinen. Was wie Gegensätze erscheint kann sich hervorragend ergänzen.
Veröffentlicht am 27.06.2022
Vulnerable Leadership – neuer Hype oder sinnvolle Führungstechnik?

Der Begriff „Vulnerable Leadership“ ist eines dieser neuen Buzz-Words. Er lässt sich mit „verwundbarer“ oder „verletzlicher“ Führung übersetzen, auch „anfällig“ trifft gut. Das soll Führungskräfte erfolgreich machen? Anfälligkeit? Führungskräfte sind doch die, die dem Team voran marschieren, es dabei antreiben, begeistern und mitreißen, die kühle, schnelle und auch mal harte Entscheidungen treffen und immer herausragend performen – Top-Performer eben! In der Zuspitzung fällt leicht auf, dass solch ein Bild veraltet erscheint. Aber im Unternehmensalltag ist es doch noch viel zu oft präsent, gar dominant.

Den Begriff „Vulnerable Leadership“ hat schon vor rund zehn Jahren die US-amerikanische Sozialpsychologin Brené Brown geprägt, die menschliches Verhalten erforscht. Ihr 2012 erschienenes Buch „Daring Greatly: How the Courage to Be Vulnerable Transforms the Way We Live, Love, Parent, and Lead“ erschien ein Jahr später unter dem Titel „Verletzlichkeit macht stark: Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden“. Aber wie kann Verletzlichkeit stark machen? Das klingt wie ein Widerspruch, ist aber keiner. Menschen sind nun mal verletzlich, wer sich stets stark und unbesiegbar darstellt, der stellt eben nur etwas dar. Es ist wie Schauspielerei, denn alle wissen ja, dass wir alle verletzlich sind. Menschen, die sich selbst das nicht eingesehen und ihrem Umfeld zu demonstrieren suchen, dass sie es nicht sind, vergrößern lediglich die Fallhöhe und schaffen Distanz. Wenn ein Mensch hingegen seiner Umgebung offen zeigt, dass er oder sie verletzlich ist, dann wird damit den allermeisten Verletzungen die Spitze genommen. Der Mensch wird stärker in der Abwehr von bzw. im Umgang mit Verletzungen. Und das gilt im geschäftlichen Umfeld, wo mehr oder minder offen ausgetragene Machtspiele häufig vorkommen, ebenso.

Führungskräfte, die auf Augenhöhe mit ihren Beschäftigten agieren – dazu gehört Nähe – können viel leichter das volle Potenzial des Teams abrufen. Und es gibt kaum einen besseren Weg, Nähe herzustellen, als Verletzlichkeit zu zeigen. Denn das demonstriert zugleich Emotionalität und emotionale Kompetenz und ist eine wichtige Grundlage für Empathie. Guter, wertschätzender, empathischer Umgang mit Gefühlen, die im Arbeitsalltag auftreten, ermöglicht echte Kommunikation, führt zu Vertrauen und guten Beziehungen. Zwischen Führungskraft und Team, im Team, im Unternehmen.

Wie gelingt Vulnerable Leadership? Es kann keine Patentrezepte geben, weil die Realität der menschlichen Beziehungen auch im Berufsalltag zu komplex ist. Deshalb ist es sicher ein erster guter Schritt, wenn Führungskräfte sich gründlich mit sich selbst und ihrer Persönlichkeit beschäftigen. Die Kunst besteht aber darin, diese Erkenntnisse im Unternehmensalltag nicht zu verstecken, sondern auszuleben – dabei aber trotzdem die Führung zu behalten, als Team eine gute Performance zu erzielen und seine Ziele zu erreichen. Beispiel Innovation: Es ist sicher nicht die Aufgabe von Führungskräften, alles zu wissen. Wer das darzustellen versucht, schwächt seine Position. Denn das Team weiß recht genau, was es selbst und was die Führungskraft kann – und was nicht. Wer sich dagegen darauf konzentriert, dem Team gute Bedingungen für innovatives und kreatives Denken zu ermöglichen, sich im eigentlichen innovativen Prozess aber „einreiht“, zeigt Verletzlichkeit. Zeigt, dass man eben nicht immer Antworten auf alle Fragen geben kann, dass auch andere als die eigenen oder die vorgeschriebenen oder die immer schon gegangenen Wege zum Ziel führen können. Dieser Ansatz eröffnet einen innovativen und kreativen Raum der tendenziell bessere Lösungen hervorbringen fördern wird.

Andere Beispiele für gute Vulnerable Leadership sind oft gar nicht so kompliziert – und dennoch selten im Unternehmensalltag. Beispielsweise sich zu entschuldigen, wenn man mit einer Ansicht oder Handlung falsch gelegen ist. Für viele Führungskräfte gilt das noch immer als Beschädigung ihrer Autorität, ist aber tatsächlich genau das Gegenteil: Ein Gewinn an natürlicher Autorität. Ebenso das selbstverständliche und nachvollziehbare Setzen von Grenzen, zu dem aber auch das Respektieren der Grenzen anderer gehört. Oder die Bereitschaft und Offenheit, auch sensible Themen offen zu diskutieren, wenn sie auftauchen. Und nicht immer nur Perfektion zu erwarten.

Schlussendlich müssen noch die wichtigsten Gründe für das Scheitern von Vulnerabel Leadership erwähnt werden: mangelnde Authentizität und übertriebenes Menscheln. Vergessen Sie nie, dass ihr Team meist früher als später merken wird, wenn gezeigte Verletzlichkeit nicht echt, sondern nur gespielt ist. Wenn Sie also nicht wirklich aus ganzem Herzen dazu entschlossen sind, ihren menschlichen Umgang mit dem Team auf eine neue Basis zu stellen, wird der Erfolg ausbleiben. Und es ist auch nicht zielführend, seine Emotionen ständig ohne jede Grenze herauszulassen. So ein Verhalten ist nicht einmal in Freundschafts- oder Liebesbeziehungen angemessen, geschweige denn im Job. Zeigen Sie sich in menschlichen Fragen, die für die Erreichung der gemeinsamen Ziele relevant sind, emotional offen und nahbar – aber darüber hinaus nur dann, wenn Sie eine echte Freundschaft mit Kollegen und Kolleginnen haben. Lassen Sie Nähe zu, ohne distanzlos zu werden. Aber natürlich können auch private Themen beim Team oder bei Ihnen selbst den Arbeitsalltag beeinflussen, dann ist ein offener und emotional angemessener Umgang damit in Ordnung und nachvollziehbar, eben authentisch.